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09.06.2016

Verordnungsverhalten der Ärzte: Angst vor Regress

Physiotherapeuten kennen es, aber auch viele Patienten können ein Lied davon singen: Einige Ärzte fürchten sich so sehr vor einem möglichen Regress, dass sie ihre Heilmittelverordnungen auf ein Minimum herunterfahren – und somit teilweise sogar nicht mehr ihrem Auftrag nachkommen, den Patienten die Versorgung und Therapie zukommen zulassen, die aufgrund der Diagnose notwendig wäre. Aus aktuellem Anlass – Ärzte werden offensichtlich durch AOK-Mitarbeiter und die Bezirksprüfungsstellen angemahnt weniger zu verordnen - möchten wir einmal über das Thema Richtgrößenüberschreitung und Regress aufklären.

Die Richtgröße Heilmittel wird von den Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen vereinbart. Sie dient der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als Instrument der Beitragssatzstabilität. Das Richtgrößenvolumen (Budget) ist arztgruppenspezifisch unterschiedlich und gibt dem Arzt Jahr für Jahr ein Jahresverordnungsvolumen vor, das sich jedoch nicht an seinem speziellen Bedarf orientiert. (Einigen Facharztgruppen ist gar keine Richtgröße zugeordnet wie z.B. Haut- oder Augenärzten – diese Facharztgruppen unterliegen deshalb zwar dem Wirtschaftlichkeitsgebot, aber keinem Richtgrößenregress). Für die Krankenkassen wird bezüglich der Heilmittelkosten ihrer Versicherten Planungssicherheit gewährleistet, da das Risiko durch steigende Kosten beim verordnenden Arzt liegt. Als Richtgrößen gelten zwar Quartalswerte, die Prüfung der Einhaltung der Richtgröße erfolgt jedoch bezogen auf ein Kalenderjahr.

Überschreitet ein Vertragsarzt sein Richtgrößenvolumen beispielsweise in 2012 um mehr als 15 Prozent, leitet die zuständige Prüfungsstelle ein Prüfverfahren 2014 ein.

Regresse in Baden-Württemberg?

Die Zahl der Regresse wegen Überschreitung der Heilmittelrichtgröße ist in den letzten Jahren nach Kenntnis von PHYSIO-DEUTSCHLAND Baden-Württemberg verschwindend gering gewesen – und die wenigen Regressbeträge lagen nicht ansatzweise in der immer wieder kolportierten Größenordnung.

Grundsätzlich gilt, dass erst ab 15 Prozent der Überschreitung des Richtgrößenvolumens überhaupt ein Prüfverfahren eingeleitet werden kann. Aber auch dieses hat nicht zwangläufig einen Regress zur Folge. Erst müssen Herausrechnungen vorgenommen werden (Patienteneigenanteil; Verordnungen, die zu Langfristverordnungen oder Praxisbesonderheiten zählen; medizinisch begründete Mehrverordnungen). Und erst wenn nach diesen sämtlichen Herausrechnungen die Verordnungsrichtgröße um mehr als 25 Prozent überschritten ist, ist Raum für einen Regress.

Hat ein Vertragsarzt über diese Grenze hinaus verordnet, führt auch das nach der Gesetzeslage aber noch nicht zu einem Regress. Es gilt der Grundsatz „Beratung vor Regress“!

Mit anderen Worten: Kein Vertragsarzt, der zum ersten Mal seine Richtgröße im regressrelevanten Bereich überschritten hat, erhält einen Regress – er wird vielmehr hinsichtlich seines Verordnungsverhaltens beraten. Diese Beratung erfolgt dann durch die Kassenärztliche Vereinigung und nicht etwa durch eine Krankenkasse, beispielsweise die AOK. Erst wenn der beratende Vertragsarzt im Folgejahr erneut sein Richtgrößenvolumen, also sein Budget, im oben definierten Rahmen (25 Prozent) überschreitet, droht ein Regress.

Richtig ist aber sicherlich, dass jeder Arzt, dem ein Regressverfahren angedroht wurde, zukünftig vorsichtiger bis zu restriktiv verordnen wird.

Haus- und facharztzentrierte Versorgung

Offenkundig schwerer mit physiotherapeutischen Verordnungen tun sich unter bestimmten Umständen Vertragsärzte, die im Rahmen der haus- oder facharztzentrierten Versorgung eine gesonderte Vereinbarung mit der AOK geschlossen haben. Die Teilnahme an dieser „Sondervereinbarung“ sichert dem betreffenden Haus- oder Facharzt zwar eine höhere ärztliche Vergütung zu, verpflichtet ihn aber zugleich dazu, im Bereich der sogenannten veranlassten Kosten (dazu zählen auch Heilmittelverordnungen) Wirtschaftlichkeitsreserven zu mobilisieren.

Fälle in Baden-Württemberg: AOK-Mitarbeiter fordern weniger Verordnungen

Seit einiger Zeit bekommen wir nun vereinzelt Rückmeldungen insbesondere aus dem südbadener Raum von Mitgliedspraxen, die berichten, dass Ärzte keine Heilmittelverordnungen mehr ausstellen. Grund hierfür seien, so berichten die betreffenden Ärzte, Besuche von AOK-Mitarbeitern in den Praxen. Die AOK-Mitarbeiter würden die Ärzte dazu auffordern, den Verordnungsumfang zu reduzieren oder etwa keine Manuelle Therapie und Wärmetherapie zu verordnen.

Gesprächsversuche der Praxisinhaber mit den Ärzten scheinen bedauerlicherweise nicht zu fruchten, da die betreffenden Vertragsärzte von einer „klaren und eindeutigen Anweisung durch die AOK Südbaden“ sprechen. Versuche einer  telefonischen Kontaktaufnahme mit den Ärzten scheitern, weil diese an den Arzt nicht durchgestellt werden, von der PT-Praxis verfasste Briefe, die über die Sach-/ Rechtslage aufklären wollen, werden nicht beantwortet.

Wir wissen nicht, was die AOK Südbaden bei deren offenkundigen persönlichen Besuchen in Vertragsarztpraxen tatsächlich kommuniziert. Wir wissen aber, dass es selbstverständlich schlicht und einfach falsch wäre, wenn die AOK Südbaden kommunizieren würde, dass ein Vertragsarzt weniger verordnen bzw. keine Verordnungen für „Manuelle Therapie“ und/oder „Wärmetherapie“ ausstellen soll.

Bezirksprüfungsstelle fordert, mehr Selbstzahlerleistungen zu verordnen

Aus der Region Pforzheim hören wir von Anschreiben, die die Bezirksprüfungsstelle an Ärzte richtet. In diesen sollen die Vertragsärzte u.a. aufgefordert werden, lediglich Übungsbehandlungen zu verordnen, und die betreffenden Patienten im Übrigen darauf zu verweisen, dass weitere physiotherapeutische Leistungen als Selbstzahler in Anspruch genommen werden könnten. Laut den Schreiben diene eine KG-Behandlung alleine dem Erlernen von Eigenübungsprogrammen.

Hierzu Michael Preibsch, Vorsitzender von PHYSIO-DEUTSCHLAND Baden-Württemberg:

„1. Richtig und unbestritten ist, dass Inhalt der physiotherapeutischen Behandlung auch das Erlernen von Eigenübungsprogrammen ist – es ist aber zum Einen nicht der alleinige Zweck physiotherapeutischer Intervention und es gibt zum Anderen genug Krankheitsbilder und Behandlungen, bei denen das nicht umgesetzt werden kann.

2. Wenn ein Patient unter medizinischen Gesichtspunkten durch den untersuchenden Arzt als behandlungsbedürftig angesehen wird, hat er Anspruch auf durch die Krankenkassen zu zahlende physiotherapeutische Behandlungen – das gilt selbstverständlich auch für gesetzlich versicherte Patienten. Insoweit wäre der Verweis auf „Selbstzahlerleistungen“ in diesem Kontext fehlerhaft und rechtswidrig.

3. Auch der Hinweis auf die Verordnung von Übungsbehandlung geht völlig fehl: Übungsbehandlung kann nach den ausdrücklichen Vorgaben der Heilmittelrichtlinien nur dann als optionales Heilmittel verordnet werden, wenn ausnahmsweise das vorrangige Heilmittel aus in der Person des Patienten liegenden Gründen nicht indiziert ist (§ 12 Ziffer 3 HMR).“

Zum aktuellen Zeitpunkt liegt PHYSIO-DEUTSCHLAND das Schreiben der Bezirksprüfungsstelle jedoch (noch) nicht im Original vor, so dass wir keine abschließende Bewertung vornehmen können.

Wir fordern daher alle Mitgliedspraxen auf, die in ihren Praxen gleiches oder ähnliches erleben, uns umgehend zu kontaktieren! Wenn Ihnen Infoschreiben der Bezirksprüfungsstelle oder auch der AOK zugänglich sind, würde es uns sehr helfen, wenn Sie uns diese weiterreichen. Nur so können wir entsprechende Schritte einleiten!

Ein Schreiben der KV Baden-Württemberg, das uns in diesem Zusammenhang vorliegt haben wir hier für Sie verlinkt.