Login Mitglieder
A- A A+ Startseite Patienten‌ & Interessierte Fachkreise
21.01.2022

Sexuelle Belästigung in der Physiotherapie: Grenzen wahren, um sich zu schützen

Von Zeit zu Zeit wenden sich Physiotherapeut*innen oder Patient*innen an den Verband, die von sexueller Belästigung in Physiotherapiepraxen berichten. Insbesondere in Bezug auf das Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut*innen und Patient*innen ist dies ein sensibles Thema. Andrea Haygis vom FETZ Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V. berät betroffene Frauen und berichtet im Interview nicht nur, welche Folgen sexuelle Belästigung haben kann, sondern auch, welche (präventiven) Handlungsmöglichkeiten es gibt.

 

Frau Haygis, was ist allgemein unter dem Begriff sexuelle Belästigung zu verstehen?

Sexuelle Belästigung kann sich verbal (z.B. sexuell anzügliche Witze, Aufforderung zu intimen Handlungen), nonverbal (z.B. aufdringliches Starren, unerwünschte Fotos mit sexuellem Bezug, unsittliches Entblößen) oder physisch äußern (z.B. unerwünschte Berührung, körperliche Gewalt, sexualisierte Übergriffe).

Die Grenze zu einem Flirt ist eindeutig: Es handelt sich um sexuelle Belästigung, wenn ein sexualisiertes Verhalten unerwünscht, einseitig, erniedrigend oder abwertend ist, eine Grenze überschritten wird und/oder in Verbindung mit Sexualität Vorteile versprochen oder Nachteile angedroht werden.

 

Und wie viele Personen sind hiervon betroffen?

Da ich in einer Frauenberatungsstelle arbeite, beziehe ich mich an dieser Stelle auf Frauen, auch wenn selbstverständlich Frauen und Männer betroffen sein können. Zum Beispiel in der Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ (BMFSFJ, 2004) berichteten 58 Prozent der befragten Frauen, dass sie unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung erlebt haben. 13 Prozent waren sogar von strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt betroffen, bei Frauen mit Behinderungen lag die Quote mit 21 bis 43 Prozent noch höher („Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“, BMFSFJ, 2012).

Also hat jede vierte bis fünfte Frau, die in eine Physiotherapiepraxis kommt, schon sexualisierte Gewalt erlebt. Als Physiotherapeut*in ist es wichtig, sich dessen zu bewusst zu sein. Denn bei Patientinnen mit Traumavorerfahrung kann schon eine vermeintlich kleine Grenzverletzung eine heftige Traumareaktion auslösen.

Auch speziell am Arbeitsplatz ist sexuelle Belästigung ein Thema. In der 2018/2019 durchgeführten Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“ waren insgesamt 9 Prozent der Befragten in den vergangenen drei Jahren von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen (13 Prozent Frauen, 5 Prozent Männer) – über alle Branchen hinweg.

 

Was sind Auswirkungen für die Betroffenen?

Unter anderem kann es zu Schlafstörungen und Alpträumen, höherer Schreckbarkeit, Zittern, Schwindel, Konzentrationsprobleme, Unsicherheit und Ängsten kommen. Es kann sein, dass eine betroffene Physiotherapeutin krank wird und damit arbeitsunfähig. Oder dass eine betroffene Patientin aus Angst nie mehr eine Physiotherapiepraxis betritt. Dabei können schon kleine Grenzüberschreitungen große Auswirkungen haben: Auch bei verbalen Übergriffen sind Traumafolgen möglich!

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wirkt sich in der Regel nicht nur auf die Einzelperson, sondern auf das ganze Team aus: Die Leistungsfähigkeit nimmt ab und das Sicherheitsgefühl ist kleiner.

 

Wie ist die rechtliche Lage?

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zählt als Benachteiligung laut dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Arbeitgeber*innen haben die Pflicht, ihre Beschäftigten davor zu schützen.

Wenn es sich um strafrechtlich relevante sexuelle Belästigung handelt (z.B. körperliche Berührung), so greift der § 184i des Strafgesetzbuches zur sexuellen Belästigung. Auf Antrag kann diese mit einer Freiheits- oder Geldstrafe bestraft werden.

Bei sexuellen Übergriffen kann es hilfreich sein sich an eine Fachberatungsstelle in der Nähe zu wenden oder Hilfe bei Hilfetelefonen zu suchen, die auch an die nächste Fachberatungsstelle vermitteln können.

 

Wohin kann ich mich konkret wenden, wenn ich Unterstützung oder Hilfe benötige?

Als erste Anlaufstelle würde ich generell eine Beratungsstelle empfehlen. Dort sind nicht nur psychologische Beratung und therapeutische Gespräche möglich, sondern wir überlegen auch gemeinsam, welche Optionen es im jeweiligen Fall gibt (z.B. Rechtsberatung oder eine Anzeige bei der Polizei bei strafrechtlichen Handlungen).

Wenn Physiotherapeut*innen am Arbeitsplatz betroffen sind, dann haben sie das Recht, sich bei ihren Vorgesetzten zu beschweren und sich auf das AGG zu beziehen. Allgemein berät auch direkt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Arbeitgeber*innen und Beschäftigte zu diesem Bereich.

 

Was ist in der täglichen Berufspraxis wichtig, um klare Grenzen abzustecken?

Wichtig ist es, als Physiotherapeut*in die professionelle, fachliche Rolle einzunehmen. Dazu gehört, die Patient*innen zu siezen und möglichst klar zu benennen, was man tut (z.B. „Ich fasse Sie jetzt hier und dort an. Bitte teilen Sie mir mit, falls dies für Sie unangenehm oder schmerzhaft ist.“). Dabei ist zu beachten, dass sich v.a. auch ältere Patient*innen aufgrund des Machtgefälles und der Rolle der Physiotherapeut*in als Respektperson ggf. nicht trauen, zu widersprechen. Daher wäre es gut auch auf körperliche Reaktionen wie zum Beispiel Erstarren oder ungewöhnliches Schweigen zu achten.

Jede Person hat ihre persönlichen Grenzen, die respektiert werden sollten. Auch diese sollten Physiotherapeut*innen – genauso wie die Patient*innen – klar kommunizieren, um sich abzugrenzen (z.B. „Ich bin Ihre Physiotherapeutin. Dies gehört nicht dazu. Wenn Sie nicht aufhören, solche Witze zu erzählen, werde ich Sie nicht mehr behandeln.“).

Generell helfen klare Regeln und ein offener Umgang, das Risiko von übergriffigem Verhalten in der Physiotherapiepraxis zu minimieren. So kann es hilfreich sein, Situationen, die sich subjektiv komisch anfühlen, im Team oder mit Vorgesetzten zu besprechen und zu reflektieren. Vorgesetzte sollten Grenzverletzungen allgemein und sexuelle Belästigung im Besonderen regelmäßig in Teammeetings zum Thema machen, um alle Beteiligten zu sensibilisieren und ihnen mehr Sicherheit zu geben. Gemeinsam können verbindliche Regeln festgelegt werden, wie grenzachtender Umgang untereinander und mit den Patient*innen aussieht. Eine weitere wichtige Maßnahme ist ein Beschwerdemanagement, das allen bekannt ist. Ergänzend können Praxisinhaber*innen mit Flyern und Plakaten, die zum Beispiel bei der Antidiskriminierungsstelle oder bei Beratungsstellen erhältlich sind, informieren und so ein Signal für Betroffene, aber auch potenzielle Täterinnen und Täter setzen.

 

Andrea Haygis, Dipl. - Kunsttherapeutin (FH), Systemische Beraterin (SG), Kreative Traumatherapie, Mitarbeiterin des FETZ Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V.

 

Weitere Informationen: Unterstützung bei sexueller Belästigung

 

Online-Fortbildung am 16. März 2022: Grenzen wahren – Schutz vor sexueller Belästigung

Sie möchten sich zu diesem Thema weiterbilden? Frau Haygis bietet am 16. März 2022 von 13:00 bis 17:00 Uhr ein Online-Seminar speziell für Physiotherapeut*innen an. Details und die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

 

Foto: von privat