Ich bin da bis zum Schluss
Und das meint Annette Neurath wörtlich. Denn manchmal ist in den letzten Minuten eines Patienten oder einer Patientin niemand da – außer sie.
Seit 2015 ist Annette Neurath Vorstandsmitglied des Länderverbundes Nordost von PHYSIO-DEUTSCHLAND und seit 30 Jahren angestellte Physiotherapeutin in einer Klinik für geriatrische Akutmedizin, Rehabilitation mit 120 Betten. Vor 15 Jahren wurde dort mit geriatrischer Palliativ-Care begonnen. Daher liegt ihr Interesse und Wirken hauptsächlich in der Palliativ-Care. Acht bis zehn Betten sind für Palliativ Medizin reserviert. Palliativ Care ist kein Standard in der physiotherapeutischen Ausbildung und jede Ausbildungsstätte handhabt es anders, das bedauert Annette Neurath.
Was ist Palliativmedizin?
Palliativmedizin bejaht das Leben und akzeptiert das Sterben als normalen Prozess
Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer fortschreitenden Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung. Die Erkrankung kann nicht mehr geheilt werden. Die Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Krankheitsbeschwerden, psychischen, sozialen und spirituellen Problemen treten in den Vordergrund. Palliativmedizin umfasst die Behandlung und Betreuung von Patienten und deren Angehörige. Palliativmedizin will den Tod weder beschleunigen noch hinauszögern.
Muss nichts - kann alles
"Handhalten ist nicht unser Job. Unser Ziel ist es, dass die Patienten und Patientinnen vielleicht nochmal nach Hause gehen können, wieder mobiler werden oder auch bereit sind, in ein Hospiz verlegt zu werden“, sagt Annette Neurath. „Ich arbeite mit den Menschen sehr individuell nach ihren Bedürfnissen, da ist eine gute Biographiearbeit wichtig. Manchmal sind wir natürlich auch Seelsorger, aber vor allem sind wir Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob ich in der Reha oder Palliativ arbeite.“ Für sie ist es wichtig, dass die Patienten oder Patientinnen es schaffen, raus aus dem Bett, raus aus dem Krankenhaus, vielleicht auch einfach mal wieder raus an die frische Luft kommen.
Ich sterbe sowieso – aber nicht heute
Motivation ist alles. Dabei hilft manchmal vielleicht ein Malzbier, die Aussicht auf den Spaziergang im Freien oder der Besuch von einem der beiden Therapiehunde. "Manche Menschen geben sich vollkommen auf, wenn sie die Diagnose ihrer tödlichen Krankheit erhalten,“ stellt Annette Neurath fest. Doch sie wäre nicht die Richtige auf dieser Station, wenn sie das einfach so hinnehmen würde. So war sie überrascht, als sie sah, dass sich ein 70-jähriger von seiner Frau mit Obst füttern ließ, der einige Wochen vorher noch aktiv in seinem Garten gearbeitet hat. Als sie sich vorstellt, meinte der Patient, dass er nicht mehr turnen wolle, weil er ohnehin sterben werde. Mit der Mischung aus Hartnäckigkeit und Einfühlungsvermögen gelang es ihr, ihn erst dazu zu bewegen, sich allein anzuziehen, dann an der Trainingstherapie teilzunehmen und ihn so mobil zu machen, dass er noch ein halbes Jahr zu Hause leben konnte, bevor er dann in ein Hospiz ging. Das ist dann ein echter Erfolg für die Physiotherapeutin.
Ein Team auf Augenhöhe
Oft wird von Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen der Mangel an Wertschätzung von Seiten der Mediziner und Medizinerinnen kritisiert. In der Palliativmedizin läuft nichts ohne gute Teamarbeit. Richtig gute Teamarbeit! Palliativmedizin ist interdisziplinär und multiprofessionell, das heißt, die verschiedenen Berufsgruppen und Fachrichtungen in der medizinischen Versorgung arbeiten eng miteinander. Das Team ist groß und besteht neben Ärzten und Ärztinnen auch aus Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus der Logopädie, Ergotherapie, Pflege und aus Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Der Austausch findet regelmäßig und intensiv statt. Das Wohl der Patientinnen und Patienten steht dabei immer im Vordergrund.
Carpe diem
Genieße den Tag soll allerdings nicht nur für die Todgeweihten gelten, sondern auch für das Pflegepersonal. Eine gute self-care ist essenziell für alle, die in der Palliativmedizin arbeiten. Das eingespielte Team gehört dazu, ein gutes familiäres Umfeld wie bei Annette Neurath. Zudem hat sie einen Hund, und wenn sie in den Wald geht und Bäume anschaut, lädt ihr persönlicher Akku wieder auf. Ein echtes Kontrastprogramm gönnte sie sich, als sie jahrelang ein 50-köpfiges American Footballteam betreute, lauter junge fitte Männer, die manchmal allerdings wehleidiger waren als ihre Patientinnen und Patienten, wie sie lachend erzählt.
Leben = Bewegung, Bewegung = Leben
Überhaupt lacht Annette Neurath viel, auch mit den Patienten und Patientinnen. „Betroffenheit nützt niemandem und ein lockerer Spruch hilft manchmal weiter, als mit ernster Miene den Sinn von Physiotherapie zu erläutern“. So lässt sie die Patienten und Patientinnen auch in Ruhe, wenn sie partout nicht mitarbeiten wollen, kündigt aber schon an: „Ich komme wieder und tue Ihnen nichts“. Fast immer hat sie Erfolg und kann den Menschen mehr Mobilität verschaffen. "Wenn ich frage, was wünschen Sie sich am meisten, kommt oft als Antwort, mich allein anziehen und allein auf die Toilette gehen“, erzählt Annette Neurath. "Das ist doch ein Anreiz und eine Motivation, mit mir zu arbeiten und so sich seine Würde zu erhalten, solange es geht.“
Man stirbt, wie man lebte; das Sterben gehört zum Leben, nicht zum Tod
Das Zitat von Ludwig Marcuse klingt so einleuchtend und dennoch ist der Tod immer noch ein Tabu. „Es ist besser geworden und die Menschen werden nicht mehr zum Sterben in eine Abstellkammer gefahren, aber trotzdem gibt es noch viel Aufklärungsarbeit. PHYSIO-DEUTSCHLAND hilft dabei, dieses sensible Thema ins Bewusstsein zu rücken. Das ist ein guter Ansatz,“ so Annette Neurath.
Für jeden Toten eine Kerze
Um selbst gut damit umzugehen, dass immer wieder Patientinnen und Patienten sterben, hat das Team ein eigenes Ritual. Alle drei Monate gibt es eine Andacht im Haus der Diakonie, in dem Annette Neurath arbeitet. Die Namen der Verstorbenen, der letzten drei Monate werden laut verlesen und für jeden eine Kerze entzündet. Das hat mit Respekt zu tun, mit Loslassen und mit Verabschieden.
"In Liebe lassen"
Annette Neurath ist Mitbegründerin des Berliner Arbeitskreis "Palliativ-Care in der Physiotherapie" und pflegt intensive Kontakte zur Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Daher unterstützt sie die Aktion der DGP im Rahmen ihrer aktuellen Informations- und Aufklärungskampagne "das ist palliativ“. Die DPG geht dabei neue Wege, um vor allem das fachfremde Publikum zu erreichen. "Wir nutzen die starken Bilder des Kinos und vermitteln anhand kurzer Filmszenen, was Palliativversorgung bedeutet.“, erklärt DGP-Präsidentin Prof. Dr. Claudia Bausewein. Die DGP-Kampagne „das ist palliativ“ richtet sich vorrangig an Betroffene und Angehörige schwerkranker Menschen.
Die Serie der fünf kurzen Clips aus dem französischen Kinofilm "In Liebe lassen“ mit Catherine Deneuve in der Hauptrolle ist ab 14.11.22 mit täglich einem Filmausschnitt auf Instagram und Facebook zu sehen.
Den ganzen Trailer zum Film kann man sich auf YouTube anschauen.
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