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07.09.2017

Bundestagswahl 2017: Politikerinterview Folge 1: Dr. Anna Christmann – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Heute starten wir unsere Interviewreihe zur Bundestagswahl. Was denken die baden-württembergischen Kandidaten der Parteien über unsere Themen? Wie wollen sie die wirtschaftliche Situation von Praxisinhabern und Angestellten verbessern? Was denken sie über Akademisierung und Schulgeldfreiheit? Unterstützen sie unsere Bestrebungen mehr berufliche Autonomie zu erlangen?

In unserem ersten Interview kommt Dr. Anna Christmann zu Wort. Sie kandidiert für die Bundestagswahl 2017 im Stuttgarter Wahlkreis 2 und auf Platz 11 der Landesliste der Grünen in Baden-Württemberg.

Themenkomplex „Finanzielle Aufwertung des Berufes“

Frage: Welche Schritte sehen Sie und Ihre Partei vor, um dafür Sorge zu tragen, dass die physiotherapeutische Leistung langfristig angemessen und leistungsgerecht vergütet wird?

Dr. Anna Christmann: Die Ärztehonorare orientieren sich nach geltender Rechtslage nicht mehr an der Grundlohnsumme, sondern an der Entwicklung der Morbidität der Versicherten in einer Region. Eine entsprechende Regelung sollte dauerhaft auch für die Heilmittelvergütung gelten. Wir fordern, dass die Ausbildung in sozialen Berufen und den Gesundheitsberufen kostenfrei ist.

Frage: Bei den Gebührenverhandlungen von 2017 bis 2019 können Kassen und Berufsverbände erstmalig ohne die durch die Grundlohnsumme (GLS) festgesetzte Obergrenze Preise verhandeln. Wie stehen Sie und Ihre Partei zu dieser Neuerung? Planen Sie die unbefristete Abkoppelung von der GLS und wenn ja unter welchen Bedingungen?

Dr. Anna Christmann: Wir sind dafür, die Grundlohnsummenanbindung dauerhaft aufzugeben.

Frage: Das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) sieht eine Transparenzklausel vor, die sicherstellen soll, dass ein Teil der Gebührenerhöhung an die Angestellten in Praxen weitergegeben wird. Wie stehen Sie dazu? Welche Art der Umsetzung wäre für Sie denkbar?

Dr. Anna Christmann: Wir unterstützen die Transparenzklausel. Mit ihr wird sichergestellt, dass die Angestellten in den Praxen von der Gebührenerhöhung profitieren.

Themenkomplex „Modernisierung der Ausbildung“

Frage: Die Berufsgesetze für Therapeuten stammen aus den 1990er Jahren und entsprechen nicht mehr einer adäquaten Patientenversorgung. Inwiefern sind Sie und Ihre Partei bereit, das Berufsgesetz in der kommenden Legislaturperiode zu modernisieren?

Dr. Anna Christmann: Ja. Angesichts der demografischen Entwicklung, sich wandelnder Familien- und Gesellschaftsstrukturen steigen die Anforderungen an die Gesundheits- und Heilberufe. Die inzwischen seit Jahren geführte Debatte über die Neuordnung der Gesundheitsberufe, die Aufwertung von therapeutischen und Pflegeberufen, muss endlich auch in der Praxis Früchte tragen. Wir unterstützen daher eine zeitgemäße Überarbeitung der Berufsgesetze. Dabei wollen wir unter anderem darauf hinwirken, dass eine eigenverantwortliche und selbständige Ausübung des Berufes durch eine entsprechende Definition der Ausbildungsziele rechtlich möglich wird.

Frage: Ein Grund dafür, dass immer weniger junge Menschen sich für eine Ausbildung zum Physiotherapeuten entscheiden, sind die hohen Schulgeldforderungen der Physiotherapieschulen, die sich bis auf wenige Ausnahmen in freier Trägerschaft befinden. Die Therapieberufe sind somit die einzigen Ausbildungsberufe, für die man selbst für die Ausbildungskosten aufkommen muss. Werden Sie und Ihre Partei Maßnahmen ergreifen, das Schulgeld abzuschaffen?

Dr. Anna Christmann: Ja. Die Ausbildung in diesen Berufen muss kostenfrei sein. Junge Menschen, die einen Gesundheitsberuf erlernen, sollen nicht auch noch „Lehrgeld“ zahlen müssen.

Frage: Innovative Therapiekonzepte werden allerorts gefordert. Welche konkreten Maßnahmen werden Sie innerhalb der nächsten vier Jahre ergreifen, um zum Aus- und Aufbau der Forschung in der Physiotherapie beizutragen?

Dr. Anna Christmann: Wir setzen uns insbesondere dafür ein, die Bereiche Versorgungsforschung und Präventionsforschung zu stärken. Bei der Versorgungsforschung sind vor allem die Bereiche Public Health, Erforschung bestehender Versorgungsstrukturen, Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe sowie geschlechtsspezifische Medizin auszubauen. Darüber hinaus gilt es, die Erforschung der großen Volkskrankheiten zu stärken. Das soll in enger und fairer Kooperation mit der klinischen Praxis geschehen. Bei all dem sollte im Konkreten auch die Forschung in der Physiotherapie profitieren.

Frage: Stichwort Akademisierung: Wie sehen Sie die (Voll-)Akademisierung der Physiotherapie? Welche Maßnahmen ergreifen Sie, und welchen Einfluss auf die Länder machen Sie geltend, um mehr Studienplätze in der Physiotherapie zu schaffen wie vom Wissenschaftsrat gefordert?

Dr. Anna Christmann: Eine Akademisierung von Gesundheitsfachberufen wie der Physiotherapie, der Ergotherapie oder der Logopädie ist ein wichtiger Baustein für mehr Qualität und Patientenorientierung. Auch die Berufe selbst werden aufgewertet und attraktiver, weil mit der hochschulischen Ausbildung auch mehr Kompetenzen und Aufstiegsmöglichkeiten einhergehen. Wir werden bei den Ländern darauf hinwirken, dass ausreichend Studienplätze geschaffen werden.

Frage: Werden Sie in der kommenden Legislaturperiode die Modellstudiengänge für Therapieberufe in Regelstudiengänge überführen?

Dr. Anna Christmann: Ja, das ist unser Ziel.

Themenkomplex „Berufliche Autonomie“

Frage: Physiotherapeuten sind sehr gut ausgebildet. Wie wollen Sie und Ihre Partei die Autonomie der Physiotherapeuten stärken?

Dr. Anna Christmann: Wir wollen durch die Überarbeitung der Berufsgesetze darauf hinwirken, dass PhysiotherapeutInnen selbständiger und eigenverantwortlicher tätig werden und so auf Augenhöhe etwa mit ärztlichen Gesundheitsberufen arbeiten können.

Frage: Wie stehen Sie zur Kammerbildung für die Heilmittelerbringer?

Dr. Anna Christmann: Kammern können ein Weg sein, die Selbstverwaltung zu stärken. Die Gründung weiterer Heilberufekammern fällt in den Kompetenzbereich der Länder. Sollten die jeweiligen Heilberufe mehrheitlich die Gründung von entsprechenden Kammern wünschen, sollten sich die jeweiligen Länder diesen Wünschen nicht verschließen.

Frage: Bevorzugen Sie den Direktzugang oder die Blankoverordnung? Warum? Wie werden Sie sich für das eine oder andere Modell einsetzen?

Dr. Anna Christmann: Wir fordern, die Blankoverordnung sofort in die Regelversorgung umzusetzen. Beim Direktzugang plädieren wir für wissenschaftlich begleitete Modellprojekte, auf deren Grundlage dann über die Umsetzung in der Regelversorgung entschieden werden kann. Leider hat die große Koalition unseren diesbezüglichen Antrag abgelehnt.

Thema Umsatzsteuer auf Präventionsleistungen

Frage: Das berufliche Selbstverständnis des PT erstreckt sich weit über die Kuration hinaus. Teilhabe, partizipative Ansätze sowie Vorbeugung sind wichtige Schlagworte, die allerdings nicht von der Umsatzsteuer befreit sind. Der Gesetzgeber entlastet die Krankenkassen bewusst und richtigerweise von der Mehrwertsteuer bei rezeptierten Leistungen, aber nicht bei Leistungen nach §20. Werden Sie sich hier für eine Änderung stark machen?

Dr. Anna Christmann: Gesundheitsförderung und Prävention sind aus unserer Sicht sehr wichtig für unser Gesundheitswesen, erhöhen sie doch für alle Menschen die Möglichkeiten für ein gesundes Leben. Schon heute sind beispielsweise bestimmte ärztliche Vorsorgeleistungen von der Umsatzsteuer befreit, auch dann, wenn sie nicht Teil des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Eine generelle Umsatzsteuerbefreiung für alle Präventions- und Vorsorgeleistungen wäre aus unserer Sicht nicht zielführend.

Sonstiges

Frage: Was gedenken Sie darüber hinaus noch zu tun, um die Attraktivität des Berufes des Physiotherapeuten künftig zu steigern?

Dr. Anna Christmann: Uns ist generell an attraktiven Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen gelegen. Hierzu gehören neben einer guten Vergütung der erbrachten Leistung zum Beispiel auch familiengerechte Arbeitszeiten.