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27.07.2016

Kommentar von Vorstandsmitglied Michael Austrup zur Regressangst in Baden-Württemberg

Vorstandsmitglied Michael Austrup arbeitet seit 25 Jahren selbständig in eigener Praxis. Er empfindet die Abhängigkeit von den ärztlichen Verordnungen als größtes Übel im Praxisalltag. Gerade der Verordnungsrückgang am Ende eines jeden Quartals sei nicht hinnehmbar, ebenso nicht, wie die teilweise unkorrekt ausgestellten Verordnungen. Sein Fazit: Physiotherapeuten müssen die Versorgung der Patienten selbst in die Hand nehmen, die Steuerung von physiotherapeutischen Verordnungen durch Ärzte funktioniert nicht.

Lesen Sie hier den Kommentar von Michael Austrup zur aktuellen Situation des Verordnungsrückgangs in Baden-Württemberg.

"Seit gut 25 Jahren arbeite ich nun selbstständig als Physiotherapeut in eigener Praxis. Ich kenne unseren Praxisalltag mit all seinen Widrigkeiten gut. Seit ich diesen Job  mache, empfinde ich unsere Abhängigkeit von der ärztlichen Verordnung als das größte Übel. 

Zum einen, weil es meine fachliche Kompetenz herabsetzt. Zum anderen, weil es zu regelmäßig wiederkehrenden, völlig irrationalen „Ritualen“ führt: Immer zum Ende des Quartals spüre ich, wie so viele Kolleginnen und Kollegen, einen deutlichen Rückgang der Verordnungen.

Natürlich haben wir uns auch daran mittlerweile gewöhnt. Die Patienten kommen mit den immer gleichen Aussagen: „Mein Arzt hat gesagt, er dürfe nichts mehr aufschreiben, die Kasse zahlt das nicht“, oder „Mein Budget ist voll, alles was ich Ihnen jetzt aufschreibe, muss ich aus eigener Tasche bezahlen“ usw. Jeder von Ihnen könnte unzählige Geschichten beisteuern.  Ist aber der Patient forsch genug und macht beim Arzt genügend Druck, bekommt er das Rezept, manchmal auch derjenige, der es gar nicht mehr bräuchte. Betroffen sind in aller Regel die betagten und/oder die behinderten Patienten, die aus körperlichen und/oder geistigen Gründen nicht mehr in der Lage sind, sich zu wehren – oder deren Betreuer keine Lust/Zeit haben, sich für ihre Schützlinge einzusetzen. Das ärgert mich jedes Mal maßlos!

Im ersten und zweiten Quartal dieses Jahres war es besonders schlimm. Zahlreiche E-Mails und Anrufe aus Ihren Reihen erreichten unsere Geschäftsstelle in Stuttgart. Sie berichteten über einen erheblichen Verordnungsrückgang. Der Grund hierfür: Zahlreiche Ärzte haben ein Schreiben der Bezirksprüfstelle bekommen mit dem deutlichen Hinweis, ihr Verordnungsverhalten zu überdenken. Über den Hintergrund hat PHYSIO-DEUTSCHLAND BaWü mehrfach berichtet. Gern lesen Sie hierzu auch den nebenstehenden Faktencheck.

Wenn ich mir die täglich eingehenden Rezepte der Orthopäden, Hausärzte und Neurologen anschaue, stellen sich mir häufig die Nackenhaare auf. Einmal abgesehen von den ganzen „Syndromen“, die wir tagtäglich behandeln sollen, von Rezepten mit zwei-  oder dreimal KG, habe ich immer wieder auch Rezepte, bei denen noch nicht einmal die Angabe des Körperteils stimmt, welches behandelt werden muss. Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen. Es mag sein, dass die Ärzte überlastet sind und unter einem hohen zeitlichen Druck arbeiten. Aber egal wie man es wendet und aus welchen Gründen auch immer: Die Steuerung  von physiotherapeutischen Verordnungen durch den Arzt  funktioniert nicht. Wir müssen die physiotherapeutische Versorgung unserer Patienten  selbst in die Hand nehmen - ohne ärztliche Verordnung.

Sicherlich ist die Situation eines Arztes, der unter den budgetierten Bedingungen die medizinisch notwendige Versorgung sicherstellen soll, nicht leicht. Wer weiß, wie wir uns in dieser Situation verhalten würden, wenn wir am Ende eines Quartales die Angst im Nacken hätten, eventuell selbst für unsere Verordnungen haften zu müssen, egal wie notwendig sie sind. Diese Praxis ist natürlich auch nicht in unserem Interesse und zeigt, dass ein Schulterschluss im Sinne der Patienten unter den Akteuren im Gesundheitsbereich dringend nötig ist.  Aber es stimmt auch: Kein Arzt muss am Ende eines Quartals diese Angst haben! Oftmals fehlt das Wissen um die Mechanismen eines Regresses - schon alleine der gesetzliche Grundsatz, der besagt „Beratung vor Regress“ sollte zur Beruhigung beitragen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Wenn man sich mit Ärzten unterhält, würden diese uns lieber heute als morgen die Verantwortung für die Verordnungen und das Budget übertragen. Dieser Verantwortung müssen wir uns dann aber auch stellen und wir müssen die Frage beantworten, wie wir unter begrenzten finanziellen Ressourcen,  eine gerechtere und vernünftigere Steuerung der medizinisch notwendigen physiotherapeutischen Versorgung  hinbekommen.

Die Ärzteschaft, so jedenfalls ist meine Überzeugung, hat an der adäquaten physiotherapeutischen Versorgung kein echtes Interesse, warum sonst sollte sie dieses Feld so mangelhaft bedienen. Dass sie es aus berufs- und machtpolitischen Gründen nicht aus der Hand geben will, steht auf einem ganz anderen Blatt."

Michal Austrup, Juli 2016
(Vorstand)

Lesen Sie hier die Fakten zum Verordnungsrückgang und zum Thema „Regress“.